Im Dezember 2016
Gestern vormittag kündigte unser Sektionsmitglied Ursula Wyss mit einer starken, berührenden und überzeugenden Rede an, dass sie in den zweiten Wahlgang um das Stadtpräsidium steigt. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Der GFL-Kandidat gab nämlich gleich am Montagmittag vollmundig bekannt, er sei es seinen Wählern schuldig, wieder anzutreten. Fakt ist: Ursula Wyss machte gerade einmal 1478 Stimmen weniger. Wie es Matthias Aebischer so schön sagte, wir wollen Ursula Wyss, “weil sie anpackt und gestaltet und nicht nur verwaltet”!
Anfang November wurde die qualifizierteste Kandidatin knapp nicht zur ersten Präsidentin der Vereinigten Staaten gewählt.* Ich sehe absolut keinen Grund, wieso das in der Stadt Bern nun gleich sein soll!
Ursula Wyss ist Politikerin mit Leib und Seele. Sie ist klug, leidenschaftlich, ausdauernd, dossierfest und führungserfahren. Die Volkswirtschafterin und Ökologin ist (aus einer unpolitischen Familie kommend) mit 16 der JUSO beigetreten, mit 24 wurde sie in den Grossen Rat gewählt, und mit 26 in den Nationalrat, wo sie dann sechs Jahre lang erfolgreich die SP-Fraktion führte. In den letzten vier Jahren hat sie nun gezeigt, dass sie auch eine hervorragende Exekutivpolitikerin ist. Hand aufs Herz: Das ist beeindruckend, das soll ihr erst einmal jemand nachmachen! Doch anstatt Respekt schlägt ihr von vielen Ablehnung entgegen. Dass sie ein Profi ist wird ihr zum Vorwurf gemacht. Man hört, sie sei zu forsch, arrogant und zu wenig integrativ. Seien wir doch ehrlich: Politik ist kein Sonntagsspaziergang. Man muss strategisch denken, man muss verhandeln und sich durchsetzen können, man darf sich nicht zu schade sein, Position zu beziehen und sich für etwas mit Energie einzusetzen – sonst erreicht man nie etwas. Aber um etwas zu erreichen, dafür wird man schliesslich gewählt.
Natürlich, Ursula Wyss hat auch ihre Fehler. Das hat jede und jeder. Der Unterschied ist, dass man bei ihr seit 20 Jahren ununterbrochen hinschaut, und seit sie vor vier Jahren mit dem besten Resultat in den Gemeinderat einzog besonders genau, da sie schon damals als potentielle Stapi ins Spiel gebracht wurde. Zu verantworten hat das Alex Tschäppät, der nun mal für flapsige Sprüche bekannt ist. Geschadet hat das Vorpreschen in gönnerhafter Art aber nicht seinem Image, sondern ihrem. Viele, auch ich, fanden Alex Tschäppät’s Ankündigung damals anmassend: Ich wollte erst einmal sehen, ob Ursula Wyss sich denn als Gemeinderätin bewährt. Nun haben wir alle gesehen, dass dem so ist. Selbst Bürgerliche attestieren ihr Dossierfestigkeit. Doch wie es halt so ist, wenn man als Favoritin für das höchste Amt kandidiert, da werden dann viele kritische Stimmen laut. Zu Recht, wir leben in einer Demokratie und man soll Kritik üben. Aber wenn eine Kandidatin über Monate hinweg mit oft fadenscheinigen Argumenten als arrogante, verbissene Karrieristin dargestellt wird, anstatt dass nüchtern festgestellt würde, dass sie für das Amt gut vorbereitet ist, dann ist das eine Kampagne. Ursula sagte gestern vor den Medien, sie habe nicht zuletzt deswegen Bedenkzeit gebraucht, weil es ihr nahe ging, wie verzerrt sie dargestellt wurde, welch persönlichen Angriffe sie und ihre Familie nicht nur auf social media sondern auch in den „seriösen“ Printmedien immer wieder lesen mussten. Das kann ich gut nachvollziehen. Einen kleinen Geschmack davon kriegte übrigens sogar ich ab. Als ich mich vor ein paar Wochen auf Facebook für Ursula aussprach warf mir ein GFL-Mann vor, meine Argumentation sei viel zu oberflächlich, und brach mit den Worten „machs guet“ den Austausch mit mir ab. Ich antwortete, wenn ich einen blinden Fleck habe solle er mir diesen doch bitte aufzeigen, aber klar, ich werde mich auch sonst mir Mühe geben, es gut zu machen. Darauf schlug mir von einer GFL-Frau entgegen, ich solle bitte in Zukunft googlen, mit wem ich mich anlege, und sich nur Mühe zu geben, es gut zu machen, reiche nicht. Da war ich ehrlich gesagt etwas baff.
Die Kampagne gegen Ursula Wyss ist kein Zufall. Erstens war klar, dass die Bürgerlichen nach drei Wahlniederlagen um das Stadtpräsidium gegen Alex Tschäppät dieses Mal alles geben, um der SP das Amt streitig zu machen – sonst hätte der FDP-Präsident ja wohl kaum von sich aus einen GFL-Politiker als Stapi-Kandidat lanciert, obwohl seine Partei damit die Abwahl des eigenen Kandidaten in Kauf nahm. Zweitens sind genau solche Angriffe, wie sie gegen Ursula Wyss lanciert werden, leider immer noch häufig wenn eine Frau für ein Spitzenamt antritt. Oft kann es eine Frau niemandem recht machen: Zeigt sie sich so, wie das jemand in unserer Gesellschaft tun muss, wenn sie eine Leitungsposition will, nämlich professionell, entschlossen, durchsetzungsfähig und erfahren, dann wird gesagt, sie sei unnahbar und ehrgeizig, ja unsympathisch. Zeigt sie sich hingegen vermittelnd, hört vor allem zu und versucht, es allen recht zu machen, dann hält man ihr entgegen, sie verfüge nicht über die nötige Führungsstärke.
Für die Angriffe auf Ursula Wyss ist natürlich nicht Alec von Graffenried verantwortlich. Jedoch konnte er sich im Hintergrund dieser Kampagne als Aussenseiter-Kandidat nun einmal ziemlich einfach etablieren, insbesondere da er gerne im Vagen bleibt und von sich selbst sagt, er könne nicht mit seinem Profil punkten sondern sei eben ein Brückenbauer. Um so mehr, da er auf der grössten Liste mitte-links antrat, seine Stapi-Kandidatur aber von der FDP lanciert wurde.
Fakt ist: Im Gegensatz zu Ursula Wyss, die sich jetzt vier Jahre lang behauptet hat, wissen wir bei Alec von Graffenried noch nicht, ob er ein guter Exekutivpolitiker sein wird. Und im Gegensatz zu Ursulas Wohnoffensive, ihrer pointierten Position für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, den sozialen Ausgleich und eine offene Stadt, und ihrer gekonnten und nachhaltigen Wirtschafts-, Finanz-, Energie- und Verkehrspolitik, haben wir bei ihm wenig Ahnung, was er eigentlich anpacken will.
Als Aussenseiter-Kandidat hat man es immer leichter. Man steht weniger unter Beobachtung als die Favoritin und hat auch weniger Angriffsfläche weil man noch neu ist. Die Wählerinnen und Wähler können einen nicht an den eigenen Leistungen messen, dafür aber Hoffnungen auf einen projizieren. Und trotzdem hat Ursula Wyss im ersten Stapi-Wahlgang nur 1478 Stimmen weniger gemacht als Alec von Graffenried. Und vergessen wir nicht: Vor wenigen Jahren wollten ganze 49,4% der kantonalen Bevölkerung sie als Ständerätin- wer behauptet, sie könne nicht über die Parteigrenzen hinweg auf Menschen zugehen und Brücken bauen, der verzerrt krass die Realität!
Es heisst, es gehe nun um rot gegen grün. Doch nicht mal das ist klar. Ist denn Ursula Wyss, die Ökologie studiert hat, Projektleiterin Klima und Energie beim WWF Schweiz war und im Nationalrat in der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (UREK) politisierte, wirklich weniger grün als Alec von Graffenried? Franziska Teuscher, die es ja wissen muss, meinte dazu: „Nun, er ist Mitglied der Grünen Partei, das ist ein Kriterium. Persönlich fühlte ich mich mit Ursula Wyss aber sowohl im Nationalrat wie im Gemeinderat in allen grünen Fragen immer sehr gut verbündet.“
Last but not least: Ich bin alles andere als ein Ursula Wyss – Fangirl! Ich stehe politisch einiges weiter links als Ursula und bin mit ihr bei einigem nicht einer Meinung. Aber die Stapi, deren Priorität es ist, langfristig bezahlbaren Wohnraum zu realisieren, steht mir politisch um Meilen näher als jemand, dessen Beruf es war, bei einer Baufirma Wohnsubstanz aufzuwerten. Vor allem aber ziehe ich meinen Hut vor einer Genossin, die sich seit 20 Jahren unermüdlich für das Wohl der Menschen einsetzt; vor einem politischen Talent, das im Bundeshaus am besten vernetzt war und sich gleichzeitig nicht zu schade ist, am jährlichen Jahresschluss-Essen der Stadtteil-Sektion Bern-Nord teilzunehmen und trotz einem dichten Kalender immer noch regelmässig an Mitgliederversammlungen mit 25-30 Genossinnen und Genossen zu diskutieren; vor einer Politikerin, die weit über ihre Basis hinaus auf die Bewohner_innen zugeht weil sie wissen will, wo ihnen der Schuh drückt; vor einer aussergewöhnlichen Frau, die mehr als bewiesen hat, dass ihr Bern wirklich am Herzen liegt.
Aus all diesen Gründen freue ich mich, dass Ursula Wyss wieder antritt und ich wünsche mir, dass wir der Stadt zeigen, wie gut die SP mobilisieren kann. Und ich hoffe, dass die Bernerinnen und Berner am 15. Januar tun, was die US-Amerikaner_innen am 8. November nicht taten: Die fähigste Kandidatin zur Präsidentin wählen!
Andrea Blättler, Mitglied im Vorstand der SP Bern-Nord und in der Geschäftsleitung der SP Frauen* Schweiz
#WahlBern16 #wirwolleneinefrau
* Um es gleich klar zu stellen: Selbstverständlich ist Alec von Graffenried mitnichten vergleichbar mit Donald Trump! Die Parallele, die ich ziehe, illustriert einzig und alleine auf die Schwierigkeiten auf die eine Frau stösst, in das höchste Amt gewählt zu werden, wenn gleichzeitig ein Mann antritt. Und die sind meines Erachtens leider meist ziemlich ähnlich, unabhängig davon, ob der männliche Kandidat eine brandgefährliche Katastrophe ist, ob er einfach nur weniger gut vorbereitet / weniger geeignet ist oder ob er gleich fähig ist wie die weibliche Kandidatin.