für alle statt für wenige

Ursula Wyss: «Der Ausbau der Veloinfrastruktur hat sich gelohnt»


Im Februar 2021

Interview von Daniel Vonlanthen (Vorstand SP Bern-Nord) – erschienen im SP-Nord-Journal Nr 54 Nov 2020

Kennst du dieses Zitat? «Wir sollten die Krise als Chance nutzen, eine gerechte Verteilung des städtischen Raums zugunsten der Menschen zu erreichen.»

Ursula Wyss: Es könnte von mir sein. 

Ja, es stammt aus deinem Positionspapier vom 24. April 2020 betreffend Corona-Massnahmen in der Stadt Bern. Aber es könnte ein grundsätzlicher Leitsatz deiner Amtszeit sein.

Ursula: Ja durchaus, denn es ist ein sozialdemokratischer Grundsatz, der mit Gerechtigkeit zu tun hat. Die Möglichkeiten zur Nutzung des öffentlichen städtischen Raums sind ungleich verteilt. Das Thema ist aktueller denn je; und es beschäftigt uns seit Jahren. Seit dem zweiten Weltkrieg sind die Städte aufs Auto ausgerichtet. 60 bis 80 Prozent der öffentlichen Flächen in europäischen Städten sind dem Strassenverkehr geopfert. Dieser Flächenanspruch bestimmt zu einem grossen Teil das Verhalten der Menschen im Aussenraum. 

Der Autoverkehr ist ineffizient, beansprucht übermässig viel Platz und Ressourcen und beeinträchtigt Umwelt und Lebensqualität. Dein Ziel ist eine nachhaltige, stadtverträgliche Mobilität. Hat die Corona-Pandemie die Verkehrswende eher beschleunigt oder gebremst?

Ursula: Für eine Bilanz ist es noch zu früh. Die Massnahmen gegen Corona haben den Leuten die Augen geöffnet dafür, wie wichtig das direkte Wohnumfeld ist – gerade für Familien mit Kindern. Nicht alle verfügen über eine geräumige Wohnung mit Balkon. Das 

Mobilitätsverhalten hat sich nicht grundsätzlich verändert. Verloren hat der öffentliche Verkehr, denn zu Beginn der Pandemie wurde den Leuten sogar empfohlen, diesen zu meiden. Der öffentliche Verkehr wurde zu Unrecht stigmatisiert. Eine erfreuliche Zunahme hat der Veloverkehr in der Stadt erfahren. Die Steigerung konnten wir an unseren diversen Messstationen feststellen. Leider müssen wir auch konstatieren, dass mehr Autos aus der Region in die Stadt fahren – dies belastet das städtische Verkehrsnetz. Der Ausbau der Veloinfrastruktur hat sich gelohnt. Ich habe ihn während meiner Amtszeit konsequent vorangetrieben. Allerdings sind wir noch längst nicht am Ziel. 

Wirksame Veloförderung erfordert eine Neuverteilung der Verkehrsflächen mit Einbussen für den Autoverkehr. Dies löst zumeist heftige Widerstände aus. Wie hast du sie überwinden können?

Ursula: Wir gingen mit Pragmatismus vor. Zuerst haben wir geschaut, wo es ungenutzten Strassenraum gibt. Alle waren überrascht, wie viele tote Flächen es tatsächlich gibt. Diese konnten wir dem Fuss- und Veloverkehr zurückgeben ohne Einbussen für andere. Zudem gab es Strassenzüge wie beispielsweise Viktoria- und Könizstrasse, die beidseitig zugeparkt waren. Diese Parkplätze haben wir aufgehoben zugunsten der Velos. Und es war sehr erstaunlich festzustellen, dass sich schon nach wenigen Tagen kaum jemand mehr an diese Parkplätze erinnerte. 

Die jüngste Umfrage von Pro Velo Bern beklagt Sicherheitslücken im Velonetz – besonders bei Knotenpunkten und Übergängen. 

Ursula: Leider lässt sich das Verkehrssystem nicht in kurzer Zeit ändern. Denn wie gesagt, die Ausrichtung des Strassenraums auf den Autoverkehr hat jahrzehntelange Tradition. Dem möglichst ungestörten Verkehrsfluss wird alles untergeordnet. In der nationalen Strassengesetzgebung und Infrastrukturplanung hat das Auto nach wie vor Priorität. Das Velo bekommt, dort wo es aus Platzgründen möglich ist, einen Streifen am Rand zugewiesen. Entsprechend ist auch die Finanzierung geregelt. Es gibt viel Geld fürs Auto, wenig für Fuss- und Veloverkehr, deren Infrastruktur man den Gemeinden überlässt. Für den Bau von Autobahnen kann der Bund dank Abschöpfung von Treibstoffzöllen immer aus vollen Kassen schöpfen. Kantonale und eidgenössische Gesetzgebung widersprechen den städtischen Bedürfnissen fundamental. Wir brauchen eine nationale Mobilitätsstrategie der Städte. Im Städteverband ist dies ein grosses Thema. 

Dennoch hast du die städtische Veloinfrastruktur laufend verbessern können, zum Beispiel auf Lorrainebrücke und Nordring. Du hast Velohauptrouten eingerichtet; weitere sind in Planung. 

Ursula: Wir nutzen den vorhandenen Spielraum, auch wenn er bescheiden ist. Die meisten Städte sind mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert. Die übergeordneten Regelungen befriedigen nur die Überlandmobilität. Die meisten Städte in der Schweiz sind heute rot-grün regiert. Die linken Parteien konnten besser auf urbane Bedürfnisse eingehen. Ich hoffe, dass auch Bürgerliche einsehen, dass wir eine Verkehrswende brauchen. Die FDP-Basis wohnt auch lieber an verkehrsberuhigten Strassen, auch viele Bürgerliche fahren per Velo zur Arbeit. Die Wahl des Verkehrsmittels ist heute weniger vom Parteibuch als vielmehr von Nutzen und Bequemlichkeit bestimmt, besonders in der Stadt. 

Die freie Wahl der Verkehrsmittel bleibt in der bürgerlichen Verkehrspolitik ein Ziel. Ist dieser Grundsatz noch zeitgemäss?

Ursula: Ehrlich gesagt weiss ich nicht so recht, was damit gemeint ist. Bei der Bevölkerungsbefragung haben wir festgestellt, dass viele Leute gerne Velo fahren würden, wenn sie denn freie Wahl hätten. Haben sie aber nicht, weil sie sich im Strassenverkehr nicht sicher genug fühlen. Für die eigene Sicherheit verzichten sie aufs Velofahren. Voraussetzungen sind also eine sichere Infrastruktur und durchgehende Veloverbindungen. Freie Wahl haben demnach vor allem die Autofahrenden.

Kanton und Bund bestimmen wesentliche Bereiche der Stadtpolitik, gerade auch beim Verkehr. Der Bund will den Autobahnknoten Wankdorf massiv ausbauen und so genannte Engpässe im Strassenverkehr rund um Bern beseitigen. Die SP ist dem Verein Spurwechsel beigetreten, welcher die Projekte bekämpft. Gibt es für die Stadt Handlungsspielraum?

Ursula: Der Stadt verbleibt die Möglichkeit, Einsprache zu erheben, was voraussichtlich geschehen wird. Aber verhindern kann die Stadt Bern dieses Projekt nicht. Wenn die Widerstände allerdings gross genug sind, wird das Bundesamt für Strassen die Einwände prüfen. Die Stadt ihrerseits muss jedes kommunale Strassenprojekt vom Kanton und allenfalls vom Bund prüfen lassen. Sobald die Kapazität des Autoverkehrs infrage gestellt ist, gibt es kaum Handlungsspielraum. 

Gewerbe und Handel beklagen die Aufhebung von Parkplätzen und wehren sich gegen jegliche Einschränkungen des motorisierten Verkehrs. Wie gehst du damit um?

Ursula: Bei vielen Gewerbetreibenden dominieren klar die Interessen des Autos. Dabei steht das Gewerbe vor enormen Herausforderungen, etwa durch den Onlinehandel. Dieses Problem gibt es nicht erst seit der Corona-Pandemie. Es sind nicht die Autostädte, in denen Läden, Kleingewerbe und Gastronomie florieren, sondern verkehrsbefreite Städte mit belebten Plätzen sind Boomstädte. Die Fokussierung in Bern auf den Parkplatz vor dem Laden ist fatal, nicht für mich persönlich, sondern für die gesamte Stadtentwicklung und das Gewerbe selbst. 

Eine autofreie Altstadt ist in Bern wohl noch lange Utopie. Denn es gibt viele Altstadtliegenschaften mit privaten Garagen. Oder besteht Hoffnung?

Ursula: Der Gemeinderat hat im Rahmen der Parkierung in der Unteren Altstadt beschlossen, das Parkieren unter den Lauben, also vor privaten Garagentoren, zu unterbinden. Bislang fehlte hierfür die gesetzliche Grundlage. Die Vereinigten Altstadtleiste unterstützen uns in dieser Frage. 

Auch ausserhalb der Verkehrspolitik hast du dich in den acht Jahren als Macherin mit grossem Gestaltungswillen profiliert und innovative Projekte aufgegleist beziehungsweise verwirklicht. Nehmen wir das Beispiel Farbsacktrennsystem.

Ursula: Zwei Aspekte sind hier wichtig: Wir wollen die flächendeckende Containerpflicht einführen – ausgenommen aus Platzgründen ist die Altstadt. Container dienen der Arbeitssicherheit und Gesundheit des Personals von Entsorgung und Recycling; viele leiden unter Rückenproblemen. Als Arbeitgeberin ist die Stadt Bern in der Pflicht. Das Farbsacktrennsystem können die Bürgerinnen und Bürger freiwillig nutzen. Quartiersammelstellen und Entsorgungshöfe bleiben in Betrieb. 

In der Gleichstellungspolitik hast du Erfolge erzielt, indem du in deiner Direktion den Frauenanteil von 15,7 auf 23,1 Prozent erhöht hast, obwohl es in gewissen Branchen kaum Frauen gibt. 

Ursula: In der Tat ist die Rekrutierung von Frauen in einigen Bereichen schwierig. Stadtgrün etwa konnte den Frauenanteil massiv erhöhen, während im Tiefbau und bei Entsorgung und Recycling die Männer dominieren. Ingenieurinnen gibt es wenige; und die wenigen sind heftig umworben. Alle wünschen sich mehr Frauen. Der Bereich öffentlicher Raum des Tiefbauamts hingegen hat viele Frauen angesprochen. Heute haben wir hier sogar eine Frauenmehrheit, was sehr erfreulich ist. Selbst bei der Entsorgung von Hauskehricht und in der Strassenreinigung konnten wir vermehrt Frauen anstellen. Beladerinnen waren bis vor kurzem kaum denkbar. Zu erwähnen ist auch, dass es in meiner Direktion keine unerklärbaren Lohnunterschiede gibt. Allerdings haben wir immer noch zu tiefe Löhne. Michael Aebersold als Direktor Finanzen und Personal ist daran, die Löhne zu überprüfen und nach Möglichkeit anzupassen. 

Seit 28 Jahren regiert in Bern das Bündnis Rot-Grün-Mitte. In der Folge habe die Stadt mit ihrer Mehrheit von Gleichgesinnten sich zur Wohlfühloase entwickelt, lautet die These eines neuen Buchs. Empfindest du das auch so?

Ursula: Ich weiss nicht, was mit Wohlfühloase gemeint ist, habe das Buch nicht, aber noch nicht gelesen. Wir sind starken äusseren Einflüssen ausgesetzt, und die soziale Situation in Bern ist für viele Menschen alles andere als rosig. Viele Familien leben in prekären Verhältnissen. Gleichzeitig vermelden die Banken Milliardengewinne und die Börse boomt. Corona hat diese Ungleichheiten verschärft. Als Stadt sind wir gefordert, möglichst alle teilhaben und mitbestimmen zu lassen. Mit den Popups zum Beispiel haben wir es geschafft, Nachbarschaften entstehen zu lassen. Wenn das mit Wohlfühloase gemeint ist, lassen wir das gerne so gelten. Es ist doch schön, wenn es den Leuten gut geht.